Wie seit über 150 Jahren die Überquerung der Gleise diskutiert wird
Während mangels eines Angebots einer Baufirma der neue Bahnhofsausgang Ost noch auf sich warten lässt, blicken wir zurück in die Geschichte. Der Streit zwischen Bahn und Stadt ist alt. Schon in den Jahren 1867/68 hatten die Bewohner des Sonnenbergs und des Brühls, zweier dicht bewohnter Stadtteile diesseits und jenseits der Bahnanlagen, den dringlichen Ruf nach einer „Fußpassage“ erhoben. Zwar brachte der am 2. Januar 1889 eröffnete Fußgängertunnel – die heutige „Bazillenröhre“ – zwischen der Oberen Aktien- und der Peterstraße eine gewisse Entspannung. Dennoch hatten sich die Verkehrsprobleme, vor allem am Dresdner Platz, immer mehr verschärft.
Brücke?
Mit dem Umbau der Bahnanlagen nach der Jahrhundertwende sollten endlich die Probleme der Straßenübergänge gelöst werden. 1901 griff der Chemnitzer Oberbürgermeister Dr. Beck den Vorschlag eines Bürgers auf, die Fürstenstraße unter den Gleisen bis auf die Carolastraße fortzuführen. Die Eisenbahnverwaltung zeigte sich allerdings wenig begeistert. So reifte der Plan heran, die beiden Straßen stattdessen durch eine Fußgängerbrücke zu verbinden, die in einer Breite von vier Metern und Länge von über 100 Metern über die Bahnanlagen hinweggehen sollte. Da die Stadt bereit war, dafür die Kosten zu übernehmen, fand das Projekt Eingang in den Vertrag mit dem Sächsischen Finanzministerium von 1903. Sie stellte auch Mittel in ihrem Haushalt ein und schrieb einen Architektenwettbewerb aus.
Differenzen gab es jedoch mit der Bahn über die Gestaltung des Bahnhofsvorplatzes, so dass sich das Vorhaben immer weiter hinzog.
Tunnel?
1906 setzten sich der Hilbersdorfer und der östliche Bezirksverein, also die Bürgervertretungen des 1904 eingemeindeten Vororts Hilbersdorf und des Sonnenbergs, gemeinsam dafür ein, den neuerbauten Personentunnel im Bahnhof bis zur Dresdner Straße weiterzuführen. Auch die Stadtverordneten waren sich nicht mehr einig, ob der aufwendige Brückenbau überhaupt notwendig wäre, und favorisierten stattdessen die Verlängerung des Personentunnels. Im darauffolgenden Jahr brachte der Abgeordnete Franz Biener diesen „Wunsch der Chemnitzer Bürgerschaft“ vor das Podium des Sächsischen Landtags. „Es wohnen in diesem Stadtteil, dem sog. Sonnenberg“, so Biener, „mindestens 70.000 Einwohner, und für diese Leute ist der jetzige Zugang mit ganz besonderen Erschwernissen verknüpft.“
Streit mit der Bahn
Die Bahn hatte dagegen zahlreiche Einwände, wobei sie sich u. a. auf die schon vereinbarte Fußgängerbrücke berief. 1927 brachte das Chemnitzer Stadterweiterungsamt das ehrgeizige Projekt eines Straßentunnels zwischen Oberer Georg- und Gießerstraße ins Spiel, das aber immense Kosten verursacht hätte. Anfang der dreißiger Jahre kam die Stadt wieder auf den Gedanken einer Verlängerung des Bahnsteigtunnels zurück, wobei auf dem Grundstück an der Dresdner Straße ein Bahnhofseingang (mit Fahrkartenausgabe) eingerichtet werden sollte. Die Bahn hielt erneut mit zahlreichen Argumenten dagegen, daraufhin ließ die Stadt das Projekt fallen.
Wiederum erlangte es aber Aktualität, als Anfang der siebziger Jahre die Bahnsteighalle rekonstruiert werden sollte. Die Stadt wusste die Notwendigkeit einer Öffnung des Personentunnels mit überzeugenden Zahlen zu untersetzen. Eine Haushaltbefragung hatte ergeben, dass täglich ca. 1200 Personen aus dem Einzugsbereich östlich des Hauptbahnhofs den Personentunnel benutzten. In der Spitzenstunde werde der Fußgängertunnel an der Oberen Aktienstraße von ca. 1800 Fußgängern passiert, am Tag wären es ca. 12.000 Fußgänger.
Auch an die künftige Busanbindung des geplanten Übergangs hatte man gedacht. Die Umstellung von der Linie 8 der Straßenbahn auf Omnibus werde durch die Linienführung über die Hainstraße – Friedrich-Engels-Straße (heutige Fürstenstraße) – Dresdner Straße kurze Übergangswege zur Bahn ermöglichen. Letztlich kam man aber zu dem Schluss, dass der Investitionsaufwand für das Vorhaben nicht zu leisten sei.
Es war die „Initiativgruppe Stadtgestaltung“, die in der Wendezeit erneut die Idee einer Verlängerung des Personentunnels aufgriff. Sind bis heute 150 Jahre seit der ersten Idee für eine Fußgängerverbindung zum Sonnenberg vergangen, so besteht nun wohl die begründete Aussicht auf Verwirklichung.
Stephan Weingart
Zu diesem Thema hat Stephan Weingart gemeinsam mit Thomas Hebenstreit vom Sächsischen Eisenbahnmuseum einen dreiteiligen Aufsatz für den Chemnitzer Roland verfasst. Der erste Teil ist bereits erschienen.
Interessant. Auch das es damals schon „preisgekrönte Entwürfe“ gab, die man dann nicht realisieren konnte. Wer sich für den ÖPNV in Chemnitz interessiert, sollte auf jeden Fall das Straßenbahnmuseum in Kappel besuchen. Die Pferdebahn gab es z.B. nur zwischen 1880 und 1894. Innerhalb eines Jahres war das komplette Straßenbahnnetz elektrifiziert. Neben dem Straßenbahnmuseum gibt es noch ein Turmuhrmuseum. Auch gut!