Der Publizist Matthias Zwarg würdigte den Karl Clauss Dietel zur Vernissage „Trotzdem … Chemnitz“. Ein Abend für einen großen Chemnitzer mit Herz für den Sonnenberg, und viele seiner Weggefährten.

Dietel in der ersten Reihe bei der Laudatio von Matthias Zwarg

Anfangs, als ich zusagte, heute Abend zu den Arbeiten von Karl Clauss Dietel zu sprechen, dachte ich: Welche Anmaßung! Was ist nicht alles schon gesagt und geschrieben über einen der bedeutendsten Formgestalter der DDR und auch des vereinigten Deutschlands. Fast jede und jeder von Ihnen hatte oder hat von Karl Clauss Dietel gestaltete Dinge benutzt: ist S 50 oder MZ ETZ 125 gefahren, hat auf das Heli-Radio gespart, auf einer Erika-Schreibmaschine geschrieben. Eine Flachrundstrickmaschine FRJ 5480 hatte vielleicht nicht jeder, auch nicht die Vakuumgießmaschine VGM 750, aber viele kennen sicher die in den Schubladen der DDR-Funktionäre verschwundenen Entwürfe für Trabant-Nachfolgemodelle, kenne seine architekturbezogenen Arbeiten, unter anderem in Chemnitz oder Hohenstein-Ernstthal. Er wurde mit dem Bundesdesignpreis ausgezeichnet – obwohl er das Wort Design gar nicht so mag – für sein Lebenswerk. Es gibt eine sehr gute Biographie von Jens Kassner über ihn. Was also sollte ich dem noch hinzufügen?

Aber wie meinte Gerhard Polt so schön: Es ist zwar schon alles gesagt, aber noch nicht von allen. Als ich mir diese Ausstellung vor einigen Tagen anschaute, um mich ein bisschen einzustimmen, sah ich, dass viele Gestaltungsideen von Karl Clauss Dietel – zum Teil mit Freunden, Kollegen, Weggefährten wie dem unvergessenen Lutz Rudolph schon vor Jahren oder sogar Jahrzehnten erdacht – noch heute zeitgemäß wirken, modern – was etwas anderes ist als modisch. Ganze Fahrzeugentwürfe, Teile von Fahrzeugen, das Elektrofahrrad, Kunst an nicht eingestürzten Neu- und Altbauten – das könnte man auch heute noch oder wieder so bauen, und es würde in unsere Zeit passen.
Warum ist das so, hab ich mich gefragt. Was macht diese Arbeiten so zeitlos schön, zweckmäßig und brauchbar? Warum altern sie nicht oder kaum? Der versuch einiger Antworten – ob es auch die von Karl Clauss Dietel sind, weiß ich natürlich jetzt noch nicht, und ob es Ihre sind, weiß ich auch nicht. Aber diese kleine Rede ist ja – wie alles, was wir in die Welt setzen, zunächst einmal ein Angebot – das man auch ablehnen kann.

1928 wurde in einer Berliner Revue gesungen, so zitiert von der Architekturkritikerin Ingeborg Flagge:
„Fort mit Schnörkel, Stuck und Schaden!
Glatt baut man die Hausfassaden.
Nächstens baut man Häuser bloß,
ganz und gar fassadenlos.
Krempel sind wir überdrüssig,
viel zu viel ist überflüssig.
Fort die Möbel aus der Wohnung,
fort mit was nicht hingehört.
Ich behaupte ohne Schonung,
jeder Mensch, der da ist, stört!“

Der Zusammenhang, aus dem diese Zeilen gerissen wurden, ist nicht überliefert, aber man kann sich schon vorstellen, dass da jemand die gerade aktuellen Ideen einiger Bauhaus-Architekten nicht uneingeschränkt gut fand.
Karl Clauss Dietel, wie wir wissen ein großer Bewunderer der Chemnitzer Bauhauskünstlerin Marianne Brandt und einer derjenigen, der sie überhaupt erst wieder ins Gedächtnis der Stadt hob, kennt die Traditionen des Bauhauses und hat sich manchen von ihnen auch verpflichtet gefühlt. Aber er hat sie schöpferisch angewandt und nie, ohne die Menschen mitzudenken, für die alle Formgestaltung letztlich gedacht ist und gemacht wird.
Das hat etwas mit dem Wärme- und dem Kältestrom in der Geschichte zu tun. In der Philosophie Ernst Blochs ist mit Kältestrom die nüchterne exakte Gesellschaftsanalyse gemeint; mit dem Wärmestrom eine Gesellschaftsanalyse, die von den Erwartungen, Hoffnungen, Befürchtungen der Menschen ausgeht. In die Formgestaltung übersetzt, heißt das, dass nüchterne Zweckmäßigkeit und emotional empfundene Schönheit eine Einheit bilden sollen. Und Karl Clauss Dietel ist dies in bewundernswerter Beständigkeit gelungen. Dabei hat er nicht auf die nach Friedensreich Hundertwasser „gottlose“ gerade Linie gesetzt: „Die gerade Linie ist … unmoralisch. Die gerade Linie ist keine schöpferische, sondern eine reproduktive Linie. In ihr wohnt weniger Gott und menschlicher Geist als vielmehr die … gehirnlose Massenameise“. So Hundertwasser; und „jetzt haben wir das Glatte. Auf dem Glatten rutscht alles aus. Auch der liebe Gott fällt hin. Denn die gerade Linie ist gottlos… die gerade Linie ist ein Werkzeug des Teufels.“

Bei Karl Clauss Dietel klingt das – nicht weniger hart – so: „Symmetrie ist die Schönheit der Dummen.“ Und so haben viele Gestaltungen Dietels etwas Geschwungenes, etwas, das aus dem Rahmen, aus dem Goldenen Schnitt fällt, das dem Blick eine neue Richtung gibt, das Offenheit schafft und möglich macht, haben eine Dynamik, die aus der Form heraus führt und durchaus auf die Gesellschaft zielt.

Diese Offenheit wiederum hat sicher auch damit zu tun, dass Clauss Dietel selbst immer offen war und ist gegenüber anderen Künsten, Künstlerinnen und Künstlern, gegenüber Einflüssen aus Geschichte und Gegenwart, Politik und Gesellschaft. Davon legt auch diese Ausstellung Zeugnis ab, in der er Arbeiten von so unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Weggefährten versammelt hat wie Bettina Haller und Carlfriedrich Claus, Ines Bruhn und Osmar Osten, Dagmar Ranft-Schinke und Jörg Steinbach, Christine Stephan-Brosch und Gerhard Klampäckel – die Aufzählung ist nicht vollzählig. Diese Offenheit hat auch damit zu tun, dass Clauss Dietel nie ein Spezialist für nur eine Schublade der Formgestaltung war.
So, wie Spezialisierung vielleicht überhaupt eines der größten Übel der modernen Industriegesellschaft ist. Das wusste Richard Buckminster Fuller, eines der letzten Universalgenies der Welt, schon vor 50 Jahren: In seiner „Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde“ schrieb er 1969: „Natürlich hat unser Versagen viele Ursachen, aber eine der wichtigsten liegt darin, dass die Gesellschaft meint, Spezialisierung sei der Schlüssel zum Erfolg. Sie übersieht dabei, dass Spezialisierung … umfassendes Denken ausschließt. Das bedeutet, dass die potentiell integrierbaren technisch-ökonomischen Vorteile, die aus den Myriaden von Spezialisierungen erwachsen, gar nicht integrativ begriffen und deshalb nicht verwirklicht werden, oder nur auf negative Weise – durch neue Waffenausrüstungen oder durch die industrielle Unterstützung der Kriegstreiberei.“ Zumal eine besondere Art der Spezialisierung dieses „Teile und Herrsche“ ist, woraus folgt: Geteilt sein, heißt beherrscht sein.
Dies nicht zuzulassen, hat etwas mit Verantwortung zu tun – Verantwortung gegenüber dem eigenen Tun und Lassen, Verantwortung gegenüber unseren Mitmenschen und auch denen gegenüber, die uns überleben werden. Ich glaube, dass Karl Clauss Dietel dieser Verantwortung mit seiner Arbeit gerecht wurde und noch immer wird. Vielleicht, wahrscheinlich, musste man dafür manchmal auch Kompromisse eingehen – nicht zuletzt in einer Parteiendiktatur, wie es die DDR eine war – wahrscheinlich muss man dafür auch heute noch manchmal Kompromisse eingehen. Vielleicht urteilen darüber aber auch die Nachgeborenen anders als die Zeitgenossen.
Wenn heute von ressourcenschonender Wirtschaft, Nachhaltigkeit, Reparaturfähigkeit, Wiederverwertbarkeit und Langlebigkeit gesprochen wird, so können Dietel und seine Gestalterkollegen jedenfalls für sich in Anspruch nehmen, dass sie diese Werte schon in der sozialistischen Mangelwirtschaft gepflegt haben. Ohne deshalb eine „Ästhetik der Armut“ zu schaffen, wie es manche Diskussion nach der Wende erscheinen lassen wollte. Auch darin war er Buckminster Fuller ziemlich nah:
„Wir dürfen nicht so beschränkt sein, weiterhin in einem Sekundenbruchteil der astronomischen Geschichte die in Millionen von Jahren angelegten Energiereserven aufzubrauchen. Die fossilen Brennstoffe unseres Raumschiffs Erde sind wie die Batterien unserer Autos, deren Ladung erhalten werden muss, damit wir unseren „Hauptmotor“ anlassen können. Unser „Hauptmotor“ – das sind die lebensregenerierenden Prozesse: sie arbeiten nur mit unserem riesigen täglichen Energie-Einkommen, das von den Gezeiten, von der Wind- und Wasserkraft herrüht und von der direkten Sonneneinstrahlung. Unser fossiles Energie-Konto dient allein dazu, die neue Maschinerie gebaut zu bekommen, mit der das Leben und die Menschheit auf höherem Niveau mit der nötigen physischen Energie und mit neuer metaphysischer Nahrung versorgt werden. In Gang gehalten wird diese Maschinerie ausschließlich von der Strahlung der Sonne und der Anziehungskraft des Mondes, die pulsierende Energien erzeugen: Gezeiten, Wind und Regen. Diese täglichen Energie-einkommen reichen für mehr als den Betrieb unserer Hauptindustrien und ihrer automatisierten Produktion.“
Karl Clauss Dietels besonderes Verdienst – dies macht auch diese Ausstellung deutlich – ist es, das Zweckmäßige mit dem Schönen verbunden zu haben, ohne Produktgestaltung zur marktorientierten „Verpackungskunst“ (so beschreibt es Jens Kassner in seiner Dietel-Biographie) verkommen zu lassen.
Das offene Prinzip, das er dabei angewandt hat – eine Offenheit in gestalterischer, technischer, aber auch intellektueller Hinsicht, ist durchaus beispielhaft für vieles, was wir im Leben tun. Auch dies sorgt wohl dafür, dass diese Formen ihre Poesie und Schönheit behalten haben. Was der amerikanische Architekt und Soziologe Richard Sennett über die Stadt schrieb: „Eine geschlossene Stadt begegnet Menschen anderer Religion, Rasse, ethnischer Zugehörigkeit oder sexueller Orientierung mit Feindseligkeit, während eine offene Stadt sie akzeptiert.“, gilt auch für alles andere, was wir tun oder unterlassen. Womit auch der Titel der Ausstellung „Trotzdem … Chemnitz … “ eine zusätzliche Dimension bekommt. Und, um noch einmal Buckminster Fuller zu zitieren: Zum Fortbestand der Erde habe „Jeder von uns … etwas beizutragen. Doch das hängt vom selbständigen Denken Jedes Einzelnen ab, und nicht davon, irgendwelchen Regeln zu folgen, oder gar meinem Kommando. Wir sind alle Pioniere, wir alle sind Teil dieses großen unglaublichen Geheimnisses, und ganz gleich was ein Mensch auch tut, stets trägt er dazu bei, wie sich alles entwickelt und später ergibt auf der Welt, immer und überall.“
Ich denke, Karl Clauss Dietel hat seinen Beitrag dazu geleistet. Möge sein Werk Anregung für viele sein, das Ihre zu tun. In diesem Sinne …

Danke für den Text an Matthias Zwarg und für die Fotos an Eckart Roßberg!